Ein Grundstock an Wissen zum Thema „Antiziganismus“. Wir haben diesen mit freundlicher Genemingung von „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ hier abgedruckt.
Antiziganismus ist eine Form des Rassismus, der sich vor allem gegen Roma, Sinti, Kale, Kalderasch, Lovara, Lalleri, Ursari, Beasch, Manouches, Ashkali, Balkan-Ägypter, Aurari, Romanichals, Droma, Doma, Gypsies, Travellers und andere Menschen richtet, die mit dem »Z-Wort« stigmatisiert wurden und immer noch werden. Dieses Wort ist für die meisten zugleich Beleidigung und schmerzvolle Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus. Die Nationalsozialisten nutzen »Z« als Verfolgungskategorie, die in ihrer letzten Konsequenz die Ermordung der so Stigmatisierten bedeutete.
Deshalb verwenden wir ausschließlich die Eigenbezeichnungen, die so vielfältig sind, wie die Menschen selbst. In Deutschland sprechen wir von Sinti und Roma: Sinti leben seit Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum und sind in der Bundesrepublik seit 1995 als eine von vier nationalen Minderheiten anerkannt. Der Begriff Roma wird international als Oberbegriff für die vielen verschiedenen Menschen verwendet.
Aufgrund von Antiziganismus wird Roma und Sinti ihre Heterogenität und Individualität jedoch aberkannt – sie werden zu einer vermeintlich homogenen Gruppe konstruiert, der verschiedene, meist negativeEigenschaften zugeschrieben werden. Selbst auf den ersten Blick positive Zuschreibungen(wie etwa Musikalität)dienen nur einem Zweck: ihreangebliche»Fremdartigkeit« zu unterstreichen und die Menschen zu exotisieren.
Antiziganistische Ressentiments und Praktikensowie ihre Übertragung in ausgrenzende Gesetze lassen sich bereits seit dem ausgehenden Mittelalter nachweisen. So berichtete schon 1424 Andreas Presbyter von Regensburg: »Dieses Volk schlug seine Zelte auf den Feldern auf, denn es war ihnen nicht erlaubt, in den Städten zu wohnen. Es eignete sich nämlich den Besitz der anderen geschickt durch Diebstahl an.« Anschließend beschreibt er eine Reihe von Vorurteilen, die nahezu unverändert über Jahrhunderte Bestand hatten: unchristliche Lebensführung, Herkunft aus einem bedrohlichen Land und der damit verbundene Verdacht, Spione feindlicher Heere zu sein. Entstanden ist der Antiziganismus jedoch nicht als Reaktion auf die Migration von Roma und Sinti nach Europa – vielmehr bilden die gegen sie gerichteten Ressentiments die sozialen Ängste der damaligen Gesellschaft ab, für die die immigrierenden Sinti und Roma zur Projektionsfläche wurden.[1]
Genauso verhält es sich auch heute: Die rassistische Vorstellung über Sinti und Roma dient als Negativfolie moderner Gesellschaften. Dabei sagen die Stereotype und Ressentiments nichts über diejenigen aus, die von ihnen betroffen sind, sondern vielmehr über die Dominanzgesellschaft. Den Prozess, dass Roma und Sinti Eigenschaften zugeschrieben werden, die von der Dominanzgesellschaft verpönt und teils verhasst sind, nennt man Projektion. Unliebsame Eigenschaften auf die vermeintlich »Fremden« zu projizieren, trägt auch dazu bei, das »Eigene« überhaupt konstruieren zu können: Die Dominanzgesellschaft versteht sich als rational, fleißig und ordentlich, die entsprechende Negativfolie triebhaft, faul und unordentlich wirdauf Sinti und Roma projiziert.[2]
[1] Quelle: Karola Fings (2016). Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit. München: C.H.Beck. S. 38–39.
[2] Quelle: Franz Maciejewski (1996): Elemente des Antiziganismus, in: Jacqueline Giere (Hrsg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des „Zigeuners“. Zur Genese eines Vorurteils, S. 9-28 sowie Wolfgang Benz (2014): Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit – über das Vorurteil Antiziganismus, S. 18 ff. und 23 ff.
Antiziganismus ist kein »Minderheitenthema«- entsprechend kann es in der antiziganismuskritischen Arbeit auch nicht um Sinti und Roma gehen. Er ist ein Problemder gesamten Gesellschaft, das ähnlich wie andere Formen von Rassismus vorherrschende Machtstrukturen stützt und aufrechterhält. Er wirkt, wie oben beschrieben, auf verschiedenen Ebenen:sowohl in Form struktureller Ausgrenzung als auch in Form von Gewalt und Übergriffen gegen Individuen. Bei der Bekämpfung von Antiziganismus istdie Mehrheitsgesellschaft gefordert – ohne Reflexion der systematischen Diskriminierung und der eigenen Denk- und Verhaltensmuster kann Antiziganismus nicht abgebaut werden. Zugleich müssen die Stimmen der vom Antiziganismus Betroffenen endlich anerkannt und gehört werden. Als einer der notwendigen Beiträge dazu versteht sich auch die Beobachtungsstelle Antiziganismus in Europa mit ihren Maßnahmen.
Für das Phänomen der Feindschaft gegenüber Roma und Sinti werden viele unterschiedliche Bezeichnungen genutzt. Viele von ihnen entstanden in Oppositionzum Begriff des »Antiziganismus«, an welchem kritisiert wird, dass er den Eindruck vermittle, es gäbe so etwas wie »Ziganismus«. Gleichzeitig wenden sich die Kritiker/innen von einem Begriff ab, der das »Z-Wort« fortführt.Trotz solcher berechtigten Einwände besitzt der Begriff doch eine Stärke, die für die Beobachtungsstelle Antiziganismus ausschlaggebend war, ihn kritisch und mit Vorsicht zu verwenden: Im Gegensatz zu alternativen Bezeichnungen ist er analytisch präziser.[1] Im Gegensatz zu »Antiziganismus« bewegen sich alternativ vorgeschlagene Begriffe wie etwa »Romaphobie« oder »Antiromaismus« in einem sehr engen Rahmen. Sie verdeutlichen, dass sich die Feindschaft meist in ihren alltäglichen Konsequenzen gegen Roma richtet. »Antiziganismus« kann deutlich machen, dass die Feindschaft auf Projektion beruht und mit realen Roma und anderen, deren Lebenswelten, Wertevorstellungen, sozialen Wirklichkeiten etc. nichts zu tun hat.Dennoch oder umso mehr ist es beim Sprechen über Antiziganismus und in der antiziganismuskritischen Arbeit unerlässlich, immer wieder die Rückbindung an die Ebene der Erfahrung von Antiziganismus zu gewährleisten, indem von ihm getroffene Personen sich selbst äußern können und ihre Äußerungen gehört werden.
Der Begriff des »Antiziganismus« wird hier mit kritischer Distanz und im Bewusstsein um seine historische Bedeutung verwendet.
[1] Vgl. hierzu: Allianz gegen Antiziganismus (Hrsg.) (2017): Antiziganismus Grundlagenpapier, S. 6.
Für Sinti und Roma hat Antiziganismus tiefgreifende, strukturelle und oft lebensbedrohliche Folgen.
Im heutigen Rumänien und Bulgarien wurden Roma bald nach ihrer Ankunft im 14. Jahrhundert versklavt – der Besitzer konnte über sie beliebig verfügen, sie schlagen, verkaufen oder ermorden. Zur Befreiung von der Sklaverei kam es erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Anerkennung des Unrechts oder gar eine Entschädigung stehen bis heute aus.
Im Heiligen Römischen Reich wurden seit dem Ende des 15. Jahrhunderts staatliche Maßnahmen gegen Sinti und Roma ergriffen, die zur »Vogelfreiheit« führten – Straftaten gegen Sinti und Roma, selbst Mord, wurden nicht geahndet. Diese Schutzlosigkeit dauerte in den Vorgängerstaaten Deutschlands bis 1806 an. Doch auch im Deutschen Reich blieben den meisten Sinti und Roma nach 1871 die auf dem Papier zugesprochenen Rechte verwehrt. In München wurde 1899 eine »Zigeunerzentrale« mit dem Ziel einer vollständigen Erfassung der in Bayern lebenden Sinti und Roma gegründet. Damit wurden diskriminierende Strukturen geschaffen, die durch die Nationalsozialisten weiter genutzt werden konnten: 1938 wurde sie zur »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« umgestaltet und nach Berlin verlegt.[1]
Den gewaltsamen Höhepunkt erreichte die Verfolgung gegen Roma und Sinti zwischen 1933 und 1945 mit ihrer systematischen Verfolgung, Internierung und schließlich Ermordung. Ab Anfang 1943 erfolgten Verschleppungen nach Auschwitz-Birkenau, wo den meisten Ankommenden ein »Z« eintätowiert wurde. Bis zu 500.000 Sinti und Roma ließen in dem europaweit – in Massenerschießungen oder durch Giftgas– verübten nationalsozialistischen Völkermord ihr Leben.
Auch im Deutschland der Nachkriegszeit erfuhren Sinti und Roma erhebliche rechtliche und gesellschaftliche Ausgrenzung. Noch 1956 urteilte der Bundesgerichtshof, dass das staatliche Vorgehen vor 1943 keine rassistische Verfolgung gewesen sei. Dieses entwürdigende Urteil wurde erst 1963 aufgehoben. Eine offizielle Entschuldigung folgte 2015. Darüber hinaus endeten auch behördliche Verfolgung und Polizeigewalt gegen Sinti und Roma (unter offiziellem oder inoffiziellem Rückgriff auf Informationen zu ihrem Hintergrund) nicht mit dem Jahr 1945, sondern wurden über Jahrzehnte, teils bis heute weiter praktiziert.
[1] Quelle: Karola Fings (2016). Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit. München: C.H.Beck. S. 40–62.
Auch heute werden Roma und Sinti wegen ihrer Herkunft überall auf der Welt angegriffen und auch ermordet.
In der Ukraine gab es 2018 eine Welle rechtsextremer Gewalt gegen Roma: Viele Siedlungen und Behausungen in Lwiw, Kiew und Ternopil wurden angezündet und zerstört, Familien, darunter Kleinkinder, vertrieben, mit Steinen beworfen, mit Eisenstangen und Pfefferspray bedroht. Der 24-jährige RomDávid Papp wurde nahe der Stadt Lwiw in der Westukraineerstochen.[1]
Im Kosovo wurde 2019 Gani Rama auf offener Straße ermordet. Er flüchtete 1999 vor der Verfolgung im Kosovo nach Göttingen, wurde jedoch 2011 mit seiner Familie in sein Geburtsland abgeschoben. Von dort berichtete er immer wieder von rassistischen Morddrohungen von Kosovoalbanern.[2]
Und auch in Deutschland sind Sinti und Roma nicht sicher: 2017 und 2018 wurden zwei Häuser in Plauen, Sachsen, in Brand gesteckt, in denen überwiegend Roma lebten.[3] Im März 2019 wurden eine Romni und ein Rom bei einem Messerangriff in der Berliner U-Bahn schwer verletzt und dabei antiziganistisch beschimpft.[4] Im Mai 2019 wurde ein Brandanschlag auf den Wohnwagen einer Roma-Familie in Erbach, Rheinland-Pfalz, verübt.[5] Zwei der Opfer des rechtsradikalen Terroranschlags in Hanau im Februar 2020 waren Roma, das weibliche Opfer war eine Romni.[6] Im April 2020 wurden in der Nähe von Freiburg bei einem Einsatz von Polizei und Ordnungsamt Angehörige einer Roma-Familie zum Teil schwer verletzt – durch Bisse eines Polizeihundes und Faustschläge. »Ich habe die Schnauze voll von euch«, kommentierte den Angriff laut Betroffenenaussagen einer der Polizisten.[7]
Gewalt ist dabei nicht die einzige Form der Diskriminierung. Roma und Sinti werden immer noch in allen Lebensbereichen benachteiligt. Sie haben einen erschwerten Zugang zum Arbeits- und Wohnraummarkt, zu Gesundheitsversorgung und Bildung. Sie werden bei Behörden rassistisch behandelt genauso wie beim Einkaufen.[8] Roma werden damit an den Rand der Gesellschaft gedrängt: 80% der Roma in Europa leben unter der Armutsgefährdungsschwelle und in überfüllten Unterkünften. Etwa 30% der Roma in der EU haben keinen Zugang zu fließendem Wasser, in Rumänien und Bulgarien verfügt etwa die Hälfte der Roma über keine Krankenversicherung. Allein in Serbien gibt es 583 informelle Roma-Siedlungen mit ca. 25.000 Bewohner/innen ohne Zugang zu grundlegender Infrastruktur. Zehntausende Roma in der Ukraine verfügen über keinen Personalausweis, ihre Kinder werden bei der Geburt nicht registriert. Damit werden ihnen jegliche Grundrechte verwehrt: Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung, legaler Beschäftigung oder Sozialhilfe.[9]
[1] Quelle: Offener Brief der Initiatoren des Bündnisses für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas.
[2] Quelle: Bericht des BundesRomaVerbandes.
[3] Quelle: Dossier von Weiterdenken / Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen.
[4] Quelle: Prozessbeobachtung der NSU-Watch.
[6] Quelle: Bericht des Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.
[7] Quelle: Bericht des Radio Dreyeckland mit einem Audiobericht des Betroffenen.
[8] Eine gute Übersicht bietet beispielsweise Karola Fings (2016). Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit. München: C.H.Beck. S. 26–27.
[9] Quelle: Übersicht des Bündnisses für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas.