Dokumentation der Fachtagung / 2024


Rückblick auf die Fachtagung „Wir wollen’s wissen! Bildungskonzepte neu denken. Ungleiche Bildungschancen für Sinti* und Roma* benennen und bekämpfen“

Einleitung der Fachtagung: Für einen gerechten Zugang zu Wissen und Teilhabe

An der Fachtagung des Projekts „WIR SIND HIER!“ nahmen am 10. April 2024 zwischen 10 und 17 Uhr rund 80 pädagogische Fachkräfte, Mitarbeitende der Bildungsverwaltung sowie Vertreter*innen aus Selbstorganisationen von Sinti* und Roma* und von BIPoC-Communities teil.

Im ersten Teil sorgten Grußworte und Impulsvorträge für aufschlussreichen Input. Vor der Mittagspause wurde die Projektgalerie eröffnet, die zum regen Austausch auch während des Essens inspirierte. Im dritten Teil ging es in fünf verschiedene Workshops, die den Kern der Fachtagung bildeten. Zum Abschluss trafen sich die Workshopreferent*innen im Panel, um über die Empfehlungen aus ihren Workshops für mehr Bildungsgerechtigkeit zu diskutieren.

Die Fachtagung eröffnete Hamze Bytyçi, Vorstandsvorsitzender von RomaTrial e.V., indem er die Grundidee des Projekts WIR SIND HIER! aufzeigte, nämlich Nachwuchs für Selbstorganisationen von Roma* und Sinti* zu empowern und sie in ihrer Identität zu stärken:

„Es geht um Zugang, nicht nur zum Wissen, sondern überhaupt zum Gefühl, dazu gehören zu dürfen.“

Hamze Bytyçi, Vorstandsvorsitzender von RomaTrial e.V.

Dass dies zum Erfolg führe, beweisen auch zahlreiche Preise, die das Projekt WIR SIND HIER! in den ersten vier Projektjahren erhielt, so Hamze Bytyçi: Die Auszeichnung beim Theatertreffen der Jugend 2022 als eines der acht Ensembles unter 50 Bewerbungen aus dem gesamten Bundesgebiet, der Erste Preis für Gewaltprävention des Landes Berlin 2023, der Initiativenpreis der „Jugendlichen ohne Grenzen“ 2023 und der Jugendengagementpreis des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg 2023.

Thomas Heppener, Leiter des Referats für Demokratieförderung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, betonte in seiner Rede die Schlüsselrolle von gerechten Bildungschancen:

Gerade die Förderung von Antiziganismus-kritischer Bildungsarbeit ist ein wesentlicher Baustein gegen Diskriminierung und für Teilhabe und Empowerment. […] Die jungen Menschen erleben Diskriminierung in der Schule, beim Sport, im Job und in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens.

Daher ist es gut, dass Projekte wie RomaTrial mit ihrer unermüdlichen Arbeit deutlich machen: WIR SIND HIER! Und wir sind ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft.

Thomas Heppener, Leiter des Referats für Demokratieförderung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Starke Jugend: „Wir sind die Zukunft!“

Kämpferisch gaben sich junge Menschen aus dem Projekt WIR SIND HIER!, deren Perspektiven einen ausschlaggebenden Teil des Inputs zu Beginn der Fachtagung bildeten. Die im Rahmen von WIR SIND HIER! ausgebildeten Peer-Trainer*innen David Paraschiv und Estera Sara Stan erklärten in ihrer Rede:

Sinti* und Roma* sind schon seit über 600 Jahren ein Teil der deutschen Gesellschaft. Einige von uns kamen auch erst als Kinder hierher. Aber eins ist sicher: Wir haben langsam die Faxen dicke! Weil es egal ist, ob jemand hier 600 oder erst 15 Jahre lebt – wir sind die Zukunft! Ohne uns wird es in Deutschland nicht weitergehen, also sollte sich die Gesellschaft ein wenig Mühe geben, uns die gleichen Chancen zu geben!“

Zwei weitere Jugendliche aus dem Projekt sprachen zum Publikum in einer Videobotschaft. Larissa Nedelcu bekräftige darin u.a. die Bedeutung der Identitätsstärkung bei jungen Roma*, die sich auch WIR SIND HIER! zum Ziel setzt:

Als ich vor drei Jahren zur Schule gegangen bin, wusste ich nicht viel über Roma*. Daher hat es für mich nicht so eine Rolle gespielt, weil ich mich vorher nie als Roma* identifiziert habe. Aber jetzt, wo ich das weiß, was ich bin und was wir Roma* sind, spielt es eine Rolle. […] Ich konnte mich selber finden und habe mit vielen Sachen aufgehört. Ich habe mich selbst nicht mehr gehasst, sondern habe angefangen, mich zu lieben. Da habe ich die echte Larissa kennengelernt.“

Ana-Maria Stan, eine weitere Projektteilnehmerin, beschrieb, wie wenig Wissen ihre Mitschüler*innen über Sinti* und Roma* hatten und wie wichtig es ihr war, dass ihre Klasse das Denkmal für die ermordeten Sinti* und Roma* Europas besuchte. Dennoch muss sie mit ihren 14 Jahren viel Aufklärungsarbeit selbst leisten:

In der Schule wurde ich mehrmals angesprochen, weil die so oft auf Social Media gesehen haben, dass ich mit der Roma-Flagge rumgegangen bin und ganz stolz die Roma-Flagge auf meinem Rücken hatte. Und viele fragten: ‚Was ist das denn, diese Roma-Flagge? Ist das so ein Z-Dings? Ein Z-Zeichen?‘ Und als ich ihnen erzählen wollte, dass Roma* und Sinti* früher umgebracht wurden, wollten sie das gar nicht hören! Und ich dachte mir so: Wow!“

Komplexe Problemlage: Ungleiche Bildungschancen für Sinti* und Roma*

Veronika Patočková, wissenschaftliche Co-Leiterin des Projekts WIR SIND HIER!, hat in einem kurzen Input ergänzend zu den Vorredner*innen die Ausgangslage zusammengefasst, für die im Laufe der Fachtagung Lösungsansätze diskutiert werden sollen. Eingangs zitierte sie den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus aus dem Jahr 2021, laut dem eine „Selbstreflexion des Bildungssystems hinsichtlich des darin verankerten institutionellen Rassismus“ gegenüber Sinti* und Roma* „ausbleibt“.

Die alltägliche und strukturelle Diskriminierung von Roma* und Sinti* hat gravierende Folge für die Bildungserfolge, wie auch die RomnoKher-Studie 2021 wissenschaftlich nachgewiesen hat. Auch wenn über 80% der für die Studie befragten Sinti* und Roma* aussagten, dass sie Abschlüsse für sehr wichtig halten, haben rund 15% der Roma* und Sinti* aus der Generation unter 30 Jahren die Schule ohne Abschluss verlassen – doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung. Nur 17% der 18- bis 25-jährigen Sinti* und Roma* haben Abitur, in der Gesamtbevölkerung sind es etwa 50%.

Im Laufe des Projekts WIR SIND HIER! konnten dafür drei Ursachen identifiziert werden, die auch pädagogischen Fachkräften in durchgeführten Workshops vermittelt werden:

1. Schule ist für junge Sinti* und Roma* kein sicherer Ort. Laut der RomnoKher-Studie erlebten 60% der Befragten Diskriminierungen an der Schule. Das Z-Wort ist auf den Schulhöfen ein gängiges Schimpfwort, Kinder und Jugendliche erleben Übergriffe und Herabwürdigungen und erfahren oft keinen Schutz durch die Lehrkräfte, die Antiziganismus teilweise nicht erkennen oder mit der Situation selbst überfordert sind.

2. Eine Repräsentanz von Sinti* und Roma* im Unterricht fehlt ganz oder ist rassistisch geprägt. Die Existenz der Minderheit ist oft nur eine Randnotiz im Geschichtsunterricht, in dem Sinti* und Roma* (wenn überhaupt) als Opfer dargestellt werden und nicht als aktive, handelnde Subjekte. Eine Studie des Georg-Eckert-Instituts für Schulbuchforschung vom Jahr 2021 entdeckte das Z-Wort in 138 Textpassagen, oft ohne Erklärung des rassistischen Kontextes oder Distanzierung vom Begriff.

3. Sinti* und Roma* erleben auch direkte oder indirekte Diskriminierung durch Lehrkräfte. Dazu gehört eben nicht nur aktive Abwertung und Diskriminierung, aber auch das unbewusste und unreflektierte Nicht-Zutrauen von Leistungsfähigkeit. Bei der RomnoKher-Studie gaben nur 4,8% der Befragten an, dass sie Lehrkräfte als Hilfe für das schulische Lernen erlebt haben. Und es gibt einen Zusammenhang zwischen den Leistungserwartungen der Lehrkräfte und dem Schulerfolg.

Darüber hinaus sprach Veronika Patočková ein weiteres, ebenfalls gravierendes Problem an, das ebenfallsdurch Antiziganismus, aber auch andere Diskriminierungsformen geprägt ist: Die Nicht-Beschulung von vielen Kindern, die in Geflüchteten- oder Obdachlosenheimen wohnen, für die es keine freien Schulplätze gibt. Hier wird durch das behördliche Versagen nicht einmal das Grundrecht auf Bildung, bzw. die Schulpflicht eingehalten. Dieses Problem kann allerdings nicht auf der Ebene gelöst werden, auf der das Projekt WIR SIND HIER! tätig ist, daher wurde es als ein wichtiges Thema lediglich angerissen.

Das Projekt WIR SIND HIER!: Widersprüche aushalten und motiviert bleiben

Wie das Projekt WIR SIND HIER! gegen die Missstände im Bildungsbereich arbeitet, hat der Projektleiter Alexander Ali Rönisch in seiner bewegenden Rede vorgestellt: Seit Beginn 2020, also seit gut 1.500 Tagen bildet das Projekt junge Roma* als Peer-Trainer*innen gegen Antiziganismus aus und macht vielfältige Angebote an die Mehrheitsgesellschaft.

Bis jetzt hat das Projekt 67 Sensibilisierungsworkshops gegeben: für Schüler*innen und Lehrkräfte, für Jugendclubs, Mitarbeiter*innen in Geflüchtetenunterkünften, Konfirmant*innen, besetzte Häuser, Hochschulen, FSJler*innen, auf Konferenzen, Dienstbesprechungen, für Streetworker*innen, Erzieherfachschulen, in Museen, als Online-Workshops, für Bezirksämter, die Senatsverwaltung für Bildung und viele mehr.

Der partizipativ, von und mit den jugendlichen Protagonist*innen entwickelte Dokumentarfilm „Amaro Filmos“ wurde mittlerweile 40 Mal aufgeführt vor über 1.600 Zuschauer*innen. Im Anschluss an jede Vorführung gab es eine Diskussion mit den Protagonist*innen, in der die Jugendlichen souverän und schlagfertig Fragen des Publikums beantwortet haben.

Das gleichnamige Forum-Theaterstück „WIR SIND HIER!“, welches in Zusammenarbeit mit Barbara Santos und Christoph Leucht von Kuringa e.V. entstanden ist, kann auf eine beachtliche Historie von 25 Aufführungen zurückblicken. Durch den partizipativen Charakter der Forumtheater-Methode wurde auch hier eine Möglichkeit der Interaktion geboten und so vielleicht der ein oder andere für mehr Engagement gegen Antiziganismus und gegen die Gleichgültigkeit der schweigenden Mehrheitsgesellschaft gewonnen.

WIR SIND HIER! war auch in Sachsen unterwegs: in Leipzig, Dresden, Chemnitz, Torgau, Görlitz, Zittau, Zwickau, Bautzen, Radebeul, Neugersdorf, Plauen, Mittweida und anderen Orten entsprach das „WIR SIND HIER!“ dem Wusch, endlich eine andere Erzählung über Sinti* und Roma* zu hören, als in den Medien verbreitet.

In Brandenburg sah es ähnlich aus: Auf den Projektreisen nach Cottbus, Potsdam, Fürstenwalde, Jüterbog, Bernau, Borkheide, Straußberg und Eberswalde wurden Kontakte aufgebaut und ein wichtiges Signal an den ländlichen Raum gesendet.

WIR SIND HIER! nutzt aber auch den Grünen Salon der Volksbühne im Herzen Berlins: Jeden Monat finden dort die „WIR SIND HIER!“ Partys statt, die jungen Menschen aus den Communities der Roma* und Sinti* einen sicheren, diskriminierungsfreien Ort zum Treffen, Lachen und Feiern bieten. Ein Angebot, das gut genutzt wird: 60 bis 80 Menschen besuchen den Grünen Salon im Schnitt je Party

Ali Rönisch hat aber auch einige Widersprüche und Schmerzpunkte des eigenen Arbeitsalltags ausgesprochen: Etwa wenn Nicht-Roma* auf einmal Sensibilisierungworkshops gegen Antiziganismus geben, obwohl sie nie dieselben Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Oder wenn junge Roma* aus dem Projekt von der Schule freigestellt werden müssen, um 250 Kilometer entfernt vor einer Schulklasse über Diskriminierung von Sinti* und Roma* im Bildungssystem zu sprechen.

Eine wichtige Frage, die während der Fachtagung immer wieder auftauchte: Wie kann man motiviert und engagiert bleiben, wenn sich alles bei der Arbeit um Diskriminierung dreht, wenn die AfD Rekordwahlergebnisse einfährt und die Wahlprognosen dieses Jahr – etwa in den Fördergebieten von WIR SIND HIER! Sachsen und Brandenburg – den Aktiven und insbesondere auch auch jungen Menschen Angst machen? Auch wenn die Fachtagung keine direkte Antwort anbietet, wurde im Laufe des Tages doch eines klar: Durch den Austausch und die Vernetzung untereinander stärken sich die Anwesenden gegenseitig und machen sich Mut für die weitere Arbeit.

Wissenskampagne RomaDay24: Unterrichtsmaterialien und Fortbildungen für Berliner Lehrkräfte

Für den nächsten Input sorgten Sara Paßquali und Christoph Leucht von der Hildegard Lagrenne Stiftung, die die Wissenskampagne RomaDay24 vorgestellt haben. Im Rahmen der Kampagne werden Unterrichtsmaterialien mit einem differenz- und diskriminierungssensiblen historisch-politischen Ansatz für den aktuellen Rahmenlehrplan der Primar- und der Sekundarstufe 1 Berlin-Brandenburg bereitgestellt, die die Hildegard Lagrenne Stiftung und ihre psychosoziale Bildungsberatung AMari Zor produzieren und verbreiten – in Kooperation mit RomaTrial e. V. und dem Verband deutscher Sinti und Roma – Landesverband Baden-Württemberg und mit den Büros für Partizipation und Integration der Bezirke Reinickendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte, Tempelhof-Schöneberg und Treptow-Köpenick, sowie der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.

Die Berliner Schulen wurden in der Woche um den 8. April 2024 herum und darüber hinaus gebeten, Informationen zur Geschichte und Gegenwart von Sinti* und Roma* in den Unterricht oder im Kontext von Projekttagen aufzunehmen, um dadurch auf den 8. April als Internationalen Tag der Roma aufmerksam zu machen.

Im Themenbereich „Sinti* und Roma* im Kontext deutscher und europäischer Geschichte und Gegenwart“ werden Ausmaß, Ursachen und Funktionen des Antiziganismus und der fortdauernden Stereotypisierung und Strategien von Resilienz und Widerstand gegen Ausgrenzung behandelt. Die Materialien für die Fächer Deutsch, Ethik, Geschichte und Politische Bildung in der Sekundarstufe 1 und für die Jahrgangsstufens 5/6 der Grundschulen im Fach GeWi werden für den Unterrichtseinsatz kostenfrei zur Verfügung gestellt und mit online Fortbildungen eingeführt.

Weitere Informationen, die Anmeldung für eine Fortbildung und der Zugang zu den Unterrichtsmaterialien sind über die folgende Website möglich: https://lagrenne-stiftung.de/wissenskampagne/.

Zeit für Vernetzung: Projektgalerie und Mittagspause

Nach dem Input kamen die Teilnehmenden der Fachtagung in Bewegung – im Rahmen einer Projektgalerie konnten sie vielfältige Bildungsprojekte und Methoden kennenlernen. Während der Mittagspause sind an runden Tischen spontane Gespräche entstanden, durch die einige neue Kollaborationen inspiriert wurden. In der Projektgalerie stellten sich folgende Projekte vor:

Virtueller Rundgang im KZ Lety: In Zusammenarbeit mit der tschechischen Organisation „romea.cz“ testet das Projekt WIR SIND HIER! die Virtuelle Realität als ein Bildungstool, anhand dessen ein Besuch des ehemaligen KZ Lety in Südböhmen möglich ist: https://wer-ist-hier.de/bildungstool/#lety

Kaštenca & Barenca, auf Romanes für „Mit Stöcken und Steinen“, ist ein Empowerment-Projekt von RomaTrial e.V., das vor allem medienpädagogische Mittel anwendet, um jungen Menschen den Weg zu einem Selbstausdruck aufzuzeigen: https://romatrial.org/projekte/kastenca-barenca/

BARE ist das Berliner Bündnis gegen Antiziganismus und für Roma*-Empowerment, das RomaTrial e.V. im Jahr 2021 initiierte: https://www.bare.berlin/

Der Lernort 7xjung – ein Projekt von „Gesicht zeigen!“ ist ein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt in unserer Gesellschaft: https://www.7xjung.de/wer-sind-wir/

Das STREET COLLEGE von Gangway steht für ein selbstbestimmtes und individuelles Lernen und schafft auf allen Ebenen radikal bedarfs- und stärkenorientierte Ansätze: https://streetcollege.de/

Kurzfilm „Nicht von schlechten Eltern – erfolgreiche Bildungswege von Sinti und Roma“ von Shlica Weiß, Sozialpädagogin des Projekts „mer kekhne – wir zusammen“ Beratung für Sinti und Roma des Stadtteilprojekts Sonnenland e.V. aus Hamburg. Dieser Film porträtiert Sinti* und Roma*, die trotz Ausgrenzung, Diskriminierung und Antiziganismus einen erfolgreichen Bildungsweg vorweisen können: https://youtu.be/DYvQFepoNmk

In „Amaro Filmos“ (auf Romanes „Unser Film“) geben junge Roma* aus Berlin einen Einblick in ihr Leben und in ihre Gedankenwelt. Der Film ist 2022 im Rahmen des Projekts WIR SIND HIER! entstanden: https://wer-ist-hier.de/amaro-filmos/

Zeit zum Arbeiten: Lange Workshopphase

Den Kern der Fachtagung bildeten fünf Workshops, die sich an unterschiedliche Zielgruppen richteten, so dass sich alle das passende Weiterbildungsangebot aussuchen konnten:

1. WIR SIND HIER für alle!

Mit Estera Sara Stan, Alexander Rönisch, Merle Weißbach (WIR SIND HIER! / RomaTrial e.V.)

Der Workshop bot einen Einstieg in das Thema Rassismus gegen Sinti* und Roma*. Anhand von Videos, kurzen Inputs, sensibilisierenden Übungen und durch viel Raum für Fragen und Austausch gewannen die Teilnehmenden ein grundlegendes Verständnis dafür, wie tief die Wurzeln des Antiziganismus liegen und warum der Antiziganismus bis heute ein gravierendes und dennoch oft ignoriertes gesellschaftliches Problem bleibt.

Dieser Workshop unterstützte Lehr- und Fachkräfte dabei, Sicherheit in diesem Themenbereich zu gewinnen, Antiziganismus zu erkennen und Inspiration zum Einbinden des Themas in den Unterricht zu finden. Vorkenntnisse waren nicht erforderlich.

2. Nie mehr sprachlos bei rassistischen Aussagen gegen Sinti* und Roma* sein!

Mit Kelly Laubinger (Sinti Union Schleswig-Holstein)

Der Workshop richtete sich an alle, die bereits gute Vorkenntnisse bezüglich der Geschichte der größten Minderheit Europas haben und dennoch manchmal nicht so richtig wissen, wie sie auf rassistische Aussagen gegen(über) Sinti* und Roma* im Bildungsbereich reagieren sollen. Im Workshop wurden in Gruppen unterschiedliche Aussagen bearbeitet, reflektiert und gemeinsam Gegenargumente überlegt. Des weiteren wurden präventive Handlungsmöglichkeiten erörtert. Der Workshop richtete sich insbesondere an pädagogische Fachkräfte, Sozialarbeiter*innen und alle, die Antiziganismus im Alltag schlagkräftig begegnen möchten.

3. Zwischen Kulturverständnis und Bildungsauftrag – Roma* und Sinti* im Schulsystem: Handlungsempfehlungen für Akteur*innen im Schulkontext

Mit Dzoni Sichelschmidt, Sozialarbeiter und Bildungsberater für Sinti* und Roma*

Der Workshop zeigte die spezifischen Probleme auf, denen Roma- und Sinti-Schüler*innen sowie das Schulpersonal im Schulalltag begegnen – von Sprachbarrieren bis zum fehlenden Bewusstsein für Antiziganismus seitens der Schulen. Die Teilnehmenden lernten konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungschancen von Roma* und Sinti* kennen, Dzoni Sichelschmidt teilte seine Erfahrungen als Bildungsberater für Sinti* und Roma*, insbesondere an der Ganztagsschule St. Pauli und an der Stadtteilschule am Hafen in Hamburg. Während des Workshops wurden praktische Tipps und Strategien zur Unterstützung von Roma- und Sinti-Schüler*innen geteilt und Fragen zu Möglichkeiten und Grenzen schulischen Handelns diskutiert.

Der Workshop richtete sich an Lehrer*innen, Schulpersonal, Bildungsberater*innen, Fachpersonen aus der Verwaltung und Politik und alle, die sich für eine gerechtere Bildung von Roma* und Sinti* engagieren.

4. Sinti* und Roma* in aktuellen Bildungsmedien

Mit Riem Spielhaus, Leiterin der Abteilung „Wissen im Umbruch“ am Georg-Eckert-Institut und Professorin für Islamwissenschaft, und David Paraschiv, Peer-Trainer gegen Antiziganismus

Eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz von 2013 regt dazu an, „Lehr-/Lernmaterialien im Hinblick darauf, ob die vielschichtige, auch herkunftsbezogene Heterogenität der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt ist“ zu prüfen und ggf. eine Ergänzung der Materialien vorzunehmen. Die Workshopteilnehmenden sichteten dieser Anregung folgend aktuelle Schulbuchdarstellungen von Sinti* und Roma* und sammelten Ideen und Impulse zu deren Ergänzung.

Zielgruppen des Workshops waren Lehrkräfte sowie Verfasser*innen von Schulbüchern und anderen Bildungsmaterialien.

5. Strategien der emotionalen Auseinandersetzung in der Arbeit gegen Antiziganismus

Mit Sara Paßquali, Trainerin und Beraterin

Bei bestimmten Themen wie Antiziganismus scheint es besonders relevant, sich emotional sicher zu fühlen und die richtigen Worte innerhalb des Austausches zu finden. Dabei ist professionelles Handeln, wie Nähe und Distanz, wenn man selbst betroffen ist, gar nicht so einfach. Gemeinsam mit den Teilnehmenden schaute Sara Paßquali aus der Empowerment-Perspektive auf die folgenden Punkte: Resilienz, Self-Care, Fallstricke, Wirk- und Abwehrmechanismen sowie Rhetorik.

Der Workshop richtete sich insbesondere an Fachkräfte, die selbst von rassistischen und anderen Diskriminierungsformen betroffen sind.

Wie weiter? Gemeinsamer Abschluss in einer Podiumsdiskussion

Unter der Moderation von Leah Carola Czollek, Gründerin und Leiterin des Instituts für Social Justice und Radical Diversity, kamen zum Abschluss der Fachtagung die Workshop-Referent*innen zusammen, um über die Ergebnisse ihrer Workshops zu berichten.

Zum Einstieg reflektierten die Expert*innen, was sie in ihren Workshops überrascht hat. Dies war u.a., wie viel Wissen bereits bei den teilnehmenden Fachkräften sowie allgemein in den Fachkreisen bereits da ist und wie groß die Bereitschaft ist, sich mit dem Thema Antiziganismus im Bildungsbereich zu beschäftigen. Die Referent*innen erwähnten darüber hinaus die Wertschätzung, die ihnen in ihren Workshops entgegengebracht wurde, und den Willen, sich auf die Workshopmethoden einzulassen, ohne sie gleich zu hinterfragen.

Im Mittelpunkt der Diskussion stand dabei die Frage, welche konkrete Ungerechtigkeit im Bildungsbereich in den Workshops zur Sprache kam – und mögliche Bekämpfungsstrategien.

  • Als ein gravierendes Problem wurden Inhalte der analysierten Schulbücher benannt, die trotz einer Triggerwarnung am Anfang des Workshops für Unwohlgefühl selbst bei den erwachsenen Teilnehmenden sorgten. Für eine wirksame Veränderung in diesem Bereich sollte ein Verbund entstehen, in dem verschiedene Akteur*innen an der Überarbeitung der Schulbücher und der Verbreitung von antiziganismus-kritischen Inhalten zusammenarbeiten.
  • Als ein wichtiger Schritt für mehr Bildungsgerechtigkeit wurde ein Perspektivwechsel benannt: Sinti* und Roma* dürfen nicht weiter als „bildungsfern“ gesehen werden, sondern als Menschen, die von der Bildung durch systematische Diskriminierung ferngehalten werden. Die Verantwortung muss dort verortet werden, wo sie hingehört – in der Bildungspolitik und in den Bildungsinstitutionen, nicht bei einzelnen Familien. Oft ist es ist keine Absicht des Bildungspersonals, Sinti* oder Roma* zu diskriminieren, es fehlt jedoch an Instrumenten, die Situation zu verändern.
  • Noch ein Schritt weiter geht die Forderung, stärker den rechtlichen Rahmen in den Blick zu nehmen. Anstatt von Betroffenen immer wieder Beiträge über ihre Diskriminierungserfahrungen zu erwarten, sollte die Akteur*innen im Bildungssystem viel stärker selbst in Verantwortung genommen werden, das Recht auf Bildung umzusetzen.
  • Damit einhergehend sollte das Bildungssystem von der defizitorientierten Perspektive abkommen und auf die Ressourcen der Roma*- und Sinti*-Familien blicken, die bisher oft ungenutzt bleiben. So sollten bspw. die Eltern als eine wichtige Ressource gesehen werden, die noch viel zu oft unsichtbar bleiben.
  • Eine weitere Empfehlung war, nicht nur nach neuen Rollenbildern zu suchen, sondern die Sichtbarkeit der bereits existierenden Vorbilder zu erhöhen– sowohl im Unterrichtsstoff, als auch die realer Fachkräfte. Es müssen neue Narrative geschaffen werden.
  • Im Laufe der Diskussion wurde klar, dass sich nicht nur das bestehende Bildungssystem ändern muss, sondern bereits schon angehende Lehrkräfte viel mehr sensibilisiert werden müssen. Doch dafür müssen auch zuerst die Dozierenden und Lehrkräfte an den Universitäten fortgebildet werden, die im Moment kein Wissen über Antiziganismus haben. Die Rolle von Schuldirektor*innen wurde angesprochen, die für mehr Sensibilisierung ihrer Lehrkräfte sorgen müssen.
  • Ein enorm wichtiger Aspekt war es, die Erwartung zu brechen, dass sich die Lage der Sinti* und Roma* in Deutschland allein durch eine bessere Bildung verbessert: Dies sei ein Trugschluss, denn eine bessere Bildung von Sinti* und Roma* an sich ist kein Mittel gegen Verfolgung und Diskriminierung. Dafür muss die Dominanzgesellschaft sensibilisiert werden.
  • Auch gesundheitliche Aspekte und der Fokus auf Psychohygiene kamen zur Sprache: Das Phänomen „Racial Battle Fatique“ wurde erörtert, eine Ermüdung von Menschen, die einerseits gegen Rassismus kämpfen, gleichzeitig aber selbst davon betroffen sind. Diese doppelte Belastung anzuerkennen ist wichtig, um die emotionale Self-Care zu stärken und die Resilienz nicht zu verlieren. Darüber hinaus muss auch das transgenerationale Trauma berücksichtigt werden, das viele Sinti* und Roma* mittragen. Hier wäre ein neuer Ansatz wichtig, bei dem der Fokus auf den Bedürfnissen der Menschen selbst liegt, und nicht auf denen des Bildungssystems.
  • Um sich gegenseitig zu stärken, sollten auch Verbündete einbezogen werden, von denen man lernen kann. Als ein konkretes Beispiel wurde eine Workshopreihe des Zentralrats der Juden in Deutschland mit Bildungsmedienverlagen genannt, die auch zum Thema Antiziganismus organisiert werden könnte.

In den letzten 10 Minuten der Fachtagung fasste Alina Oftadeh, eine Kollegin aus dem BARE-Projekt, die gesamte Fachtagung zusammen und machte auf die Feedback-Möglichkeiten aufmerksam. Die abgegebenen Rückmeldungen waren durchweg positiv – sowohl in Form einer Auswertungs-Dartscheibe, als auch als anonyme individuelle Nachrichten im Feedback-Kasten. Die Projektleitung in Personen von Alexander Rönisch und Veronika Patočková bedankten sich für das rege Interesse der Teilnehmenden.